Donnerstag, 7. März 2013

[Film] "Les Misérables"

Nichts ersetzt das Live-Erlebnis. Damit hätten wir das Offensichtliche aus dem Weg geräumt und können direkt dazu übergehen die Verfilmung von Les Misérables anzusehen. Der Film ist gut, wirklich gut, aber er könnte besser sein. Trotz aller Bemühungen, trotz des sichtbaren Aufwandes für Kostüme, Make-up und Set, trotz der konstanten Selbstbeweihräucherung im Vorfeld, alles live gesungen zu haben, bleibt der Film oft erstaunlich distanziert, was paradoxerweise daran liegt, dass er zu nah ist. Die Kamera (Regie: Tom Hooper) klebt streckenweise förmlich auf den Darstellerinnen und Darstellern, lässt uns quasi deren Backenzähne zählen (so am Rande angemerkt haben alle mit Ausnahme der Thenardiers viel zu schöne Zähne für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) und beinahe jede Pore erkennen. Niemand sieht beim Singen in so einem Close-up gut aus, aber das alleine ist es nicht. Les Misérables ist nicht der erste Film und wird auch nicht der letzte sein, in dem ästhetisch geweint wird. Es ist, dass einem die Emotionen dermaßen aufgedrängt werden, dass es schwer fällt, tatsächlich berührt zu sein. Zum Beispiel bei "Valjean's Soliloquy" oder "Empty Chairs at Emtpy Tables" und vor allem "I Dreamed a Dream". Oh dear God, "I Dreamed a Dream". Anne Hathaway hat für ihre Interpretation der Fantine den Oscar als "best supporting actress" bekommen, wahrscheinlich weil die Academy es mag, wenn Frauen Mut zur Hässlichkeit haben. Dass Hathaway keine Perücke trägt, sondern tatsächlich einen Haarschnitt bekommen hat, wurde im Vorfeld ja fast so viel diskutiert, wie die Tatsache, dass am Set live gesungen wurde. Im Kontext der Handlung werden Fantine also irgendwo in einer dunklen Gasse ziemlich unzeremoniell die Haare abgesäbelt und sie erhält so einen chicen und (unglaubwürdig) gleichmäßigen Heerenhaarschnitt. Mut zur Hässlichkeit? Relativ. Wie auch immer. Für den Film wurde die Platzierung von "I Dreamed a Dream" und "Lovely Ladies" getauscht. Fantine singt ihre Ballade also nicht gleich nach ihrer Entlassung aus der Fabrik, sondern erst als sie schon in die Prostitution abgerutscht ist. Das ist äußerst effektiv, ein guter Gedanke und Hathaway, die übrigens ansonsten fantastisch ist, hängt sich auch richtig rein. Es kommt nur irgendwie nicht an. Drei Minuten eine ästhetisch dreckige und traurige Fantine und wenn man dann auch noch ständig an das hier (I did it all in one take bitches!) denken muss - wofür die Filmmacher natürlich nichts können - ist die Szene nicht mehr zu retten.

Ein Film besteht natürlich nicht nur aus einer Szene, auch nicht wenn es eine wichtige ist. Im Großen und Ganzen macht der Film nämlich einen sehr guten Eindruck. Wer das Musical kennt, wird ein paar Änderungen bemerken: andere Reihenfolge der Lieder, Kürzungen, Erweiterungen. Ein großer Unterschied ist natürlich, dass es im Kino keine Pause gibt. „One Day More“ ist allerdings ein so starker Ende-1.-Akt-Song, dass es sich fast nicht richtig anfühlt, wenn der Film einfach weitergeht und es tut auch „Do You Hear the People Sing?“ nicht gut, das im Film danach kommt. Eigentlich eine fantastische Ensemble-Nummer, geht der Song beinahe unter und entfaltet erst in der Reprise im Finale seine wirkliche Kraft. Das ist schade. Gut zu verschmerzen ist, dass die Präsenz der Thénardiers (so gut Sacha Baron Cohen und Helena Bonham Carter ihre Sache auch machen) im zweiten Akt … äh zweiten Teil des Films („Beggars at the Feast“ gekürzt, „Dog Eats Dog“ nicht verwendet) deutlich verringert wurde. Dafür gibt es ein paar kleine Szenen, die den Film flüssiger machen und einen neuen Song. „Suddenly“ ist ein Solo von Valjean, eine Reflexion über die Veränderungen in seinem Leben, nachdem er die kleine Cosette von Thénardiers gerettet hat. Es ist ein nettes Lied, aber ultimativ zu flach und wenig aussagekräftig, insbesondere da die Musik so gar nicht ins Ohr geht und den Vergleich zum restlichen Score nicht standhält.

Besetzt (Casting: Nina Gold) ist der Film mit einer Mischung aus Broadway-Versierten - Hugh Jackman, Samantha Barks, Aaron Tveit - und Gesangs-(mehr oder weniger) Neulingen - Eddie Redmayne, Russell Crowe, Amanda Seyfried, Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter. Alle meistern ihre Parts entweder gut oder sehr gut. Live-Gesang bedeutet natürlich auch, dass Perfektion (an sich schon ein schwammiger Begriff) nicht möglich ist und es gibt durchaus Momente, in denen man vielleicht ein wenig zusammenzuckt oder das Gesicht verzieht. Aber nichts, das einem das Erlebnis verleidet. Niemand, der offensichtlich komplett fehlbesetzt ist und bei dem einen die Ohren bluten (Nick Jonas auf der Jubiläums-DVD zum Beispiel ist hart an der Grenze und Pierce Brosnan bei Mamma Mia! meilenweit davon entfernt*). Das ist erfreulich, schließlich ist Les Misérables anspruchsvoll, sowohl gesanglich als auch schauspielerisch.
Hugh Jackman bringt die innere Zerrissenheit von Jean Valjean großartig auf die Leinwand und es fällt nicht schwer, mit ihm mitzufühlen. Kompliment auch an seine Hingabe an die Rolle. Der Gefangene 24601 und der spätere Bürgermeister sind kaum als dieselbe Person zu erkennen, was die Glaubwürdigkeit der ganzen Geschichte unterstützt. Jackman brilliert vor allem bei „Who am I“ und im Finale. Mit Russell Crowe als Javert hat er einen erstaunlich starken Gegenspieler bekommen, der in manchen Szenen gesanglich sogar besser wegkommt als der Tony-Award-Gewinner. Crowe hat die schwierige Aufgabe die kompromisslose Verfolgung (auf welchem Gebäude singt er eigentlich "Stars"? Gegenüber von Notre Dame, etwa so hoch wie die Kirche?) und Verurteilung von Valjeans Charakter und die schließlich daraus resultierende im Selbstmord endende Verunsicherung glaubhaft darzustellen. Es gelingt ihm und er hat noch dazu eine der berührendsten Szenen des ganzen Films. Nach der Niederschlagung der Revolte geht Javert die Reihen der auf den Barrikaden Gefallenen ab, um Valjean zu finden. Dabei bleibt er vor der Leiche von Gavroche stehen, hält inne und steckt ihm einen seiner Orden an. Für einen Moment flackert so etwas wie Mitgefühl und Bedauern in seinem Gesicht auf. Das alles dauert vielleicht 30 Sekunden, geht aber mehr zu Herzen als so manche große Nummer.
Amanda Seyfried, in der Film-Version von Mamma Mia! als Tochter Sophie bezaubernd hat hier die undankbare Rolle von Cosette zu meistern. Das Mädchen hat so gut wie keine Charakterentwicklung und existiert im Prinzip nur als Bindeglied zwischen allen Charakteren und um einen Konflikt für Marius und eine Motivation für Valjean die Barrikaden-Revolte zu unterstützen zu generieren. Sie schlägt sich tapfer, es scheint aber doch immer wieder, dass die Partie ihr zu hoch ist. Sind Valjean und Javert offene Gegenspieler hat Cosette in Eponine eine versteckte Rivalin. Samantha Barks‘ „On My Own“ ist herzerweichend, ihren großen Moment hat sie aber zusammen mit Marius bei „A Little Fall of Rain“.
Damit wären wir bei den Studenten, die auf jeden Fall die stärksten Szenen des Films gestalten. Aaron Tveit, der schon bei Next to Normal und Catch Me If You Can sein unglaubliches Talent zeigen konnte, sticht als Studentenführer Enjolras aus dem starken Ensemble heraus. Sein Spiel ist mitreißend, glaubwürdig und differenziert. Hier zeigt sich, wie viel man mit einem Blick manchmal aussagen kann. Der Part bereitet ihm auch gesanglich keine Schwierigkeiten. Wunderbar. Die größte Überraschung für mich aber ist Eddie Redmayne, den ich bisher „nur“ aus den Literaturverfilmungen Die Säulen der Erde und Tess of the D’Urbervilles als guten Schauspieler kannte. Als Marius kann er auch seine beachtlichen gesanglichen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Er harmoniert gut mit den anderen, besonders mit Enjolras. Nur Cosette geht neben ihm fast unter, aber das liegt daran, dass Seyfried Schwierigkeiten hat, ihre Zeilen mit der gleichen Kraft wie Redmayne hervorzubringen. Marius' schwierigste Szene „Empty Chairs at Emtpy Tables“ ist zwar auch ein Fall von zu viel Close-up, aber es ist so schonungslos verletzlich, dass es einen einfach mitreißt.

Les Misérables ist kein perfekter Film, aber absolut sehenswert. Die Ausstattung ist fantastisch und der Cast auch bis in die kleinen Rollen (Ur-Valjean Colm Wilkinson als Bischof) sehr gut ausgewählt. Wie immer sind viele Entscheidungen einfach Geschmackssache. Meinen Geschmack hat die Verfilmung getroffen.

And just because it's cool: